Der Mai in Bonn ist kalt und grau –  Le Carrés „Eine  kleine Stadt in Deutschland“

Der Mai in Bonn ist kalt und grau – Le Carrés „Eine kleine Stadt in Deutschland“

Sieht man von den heute scheinbar unvermeidlichen Lokalkrimis und einigen autobiographisch geprägten Sonderfällen ab, kommt Bonn als Romanschauplatz kaum vor. Das gilt auch für seine Hauptstadtjahre. Von den wenigen Romanen, die die Politik der „Bonner Republik“ zum Thema haben, genügt allein Wolfgang Koeppens „Das Treibhaus“ als Schlüsselroman der jungen Bundesrepublik höchsten literarischen Ansprüchen. Außerhalb Deutschlands ist er leider kaum bekannt.

Damit hat Bonn in der Weltliteratur nur ein einziges Eckchen. Geschaffen hat es ihm John Le Carré (eigentlich David John Moore Cornwell, 1931-2020) in seinem 1968 erschienenen Roman „A Small Town in Germany“ (dt. „Eine kleine Stadt in Deutschland“). Der Autor des „Spions, der aus der Kälte kam“ und literarische Vater von George Smiley wird in Deutschland meist der Trivialliteratur zugeordnet. Im englischen Sprachraum gilt er, zu Recht, als einer der bedeutendsten Autoren der jüngeren Vergangenheit.

„A Small Town in Germany“ gehört zu den weniger bekannten Büchern Le Carrés. Das mag daran liegen, dass es  – anders als die meisten seiner Werke der sechziger und siebziger Jahre – nicht um das Thema des Kalten Krieges kreist und ohne den Anti-Bond George Smiley auskommt. Die Handlung ist vielmehr in die Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland eingebettet und damit einem internationalen Publikum weniger zugänglich als der weltumspannende Ost-West-Konflikt. Sie spielt ausschließlich in Bonn und seiner näheren Umgebung. Dabei greift Le Carré auf Erfahrungen zurück, die er selbst gemacht hat. Von 1961 bis 1963 war er – damals noch nicht ausschließlich Schriftsteller – vom britischen Auslandsgeheimdienst in Deutschland stationiert; zeitweise under cover als Zweiter Sekretär in der britischen Botschaft in Bonn.

Die Handlung spielt, wie Le Carré einmal an anderer Stelle bemerkt hat, vom Erscheinungsjahr des Buches aus gesehen in einer „nahen Zukunft“ – schaut man genau hin: im Mai 1970. Das politische Panorama, das den Hintergrund bildet, ist düster. Le Carré setzt es aus Elementen zusammen, die die Innenpolitik der Bundesrepublik in den sechziger Jahren mit geprägt haben, fügt Erfundenes und Zugespitztes bei und lässt eine unschöne Dystopie entstehen: Nach wie vor regiert die Große Koalition. Die oppositionelle FDP ist von zwielichtigen Gestalten mit Wurzeln in der NS-Zeit unterwandert. Es besteht eine mächtige politische Allianz zwischen der Studentenbewegung und einem, heute würden wir sagen, Rechtspopulisten. Ziel ihres Hasses ist Großbritannien. Im Bundestag wird immer noch über die Notstandsgesetze debattiert, eine Amnestie für Nazi-Verbrecher tritt in Kraft, und in Brüssel laufen die Beitrittsverhandlungen zwischen der EWG und Großbritannien schlecht. Das Land steht am Rande großer Unruhen.

In dieser Lage kommt ein Troubleshooter aus London nach Bonn. Dort ist ein nachgeordneter Mitarbeiter der Botschaft verschwunden, anscheinend untergetaucht. Spionageverdacht steht im Raum. Alan Turner soll die Sache aufklären. Während einiger Wochen im Mai durchleuchtet er die Abläufe in der Botschaft, deckt die z.T. schmutzigen Geheimnisse des Personals auf und kommt dem Gesuchten, seinem Charakter und seinen Motiven immer näher. Dieser Gesuchte ist, wenn man so will, der eigentliche Protagonist des Romans. Dennoch begegnet er dem Leser so gut wie nicht – nur je einmal kurz am Anfang und am Ende des Buches. So viel sei verraten: Es geht überhaupt nicht gut aus.

Le Carrés Bild von Bonn ist genauso düster wie die Handlung. Es beginnt mit dem Wetter – obwohl Mai, ist es durchgängig diesig und feucht. Wärme will nicht aufkommen, und vieles spielt in der Nacht. Le Carré nimmt eine Atmosphäre vorweg, wie sie später J.K. Rowlings Dementoren verbreiten werden. Die Stadt ist eng und kleinkariert – genauso wie die Republik, die sie geboren hat. Dieses Bild ist zusätzlich mit all jenen Vorurteilen dekoriert, die dem Bonner Lokalpatrioten immer schon weh getan haben: Es regnet, oder die Schranken sind zu; das Nachtleben findet in Köln statt; Bonn wurde Hauptstadt, weil Adenauer das wollte; es ist Wartesaal für Berlin usw.. Das zwinkernde Auge, mit dem diese Sprüche in Bonn gerne begleitet wurden, fehlt völlig. Der Autor meint es bitter ernst. Dazu erfindet er noch eigene Gemeinheiten. So sind in Bonn sogar die Fliegen verbeamtet.

Eingewoben in diese Buchkulisse sind viele detailgenaue Beschreibungen. Sie reichen von Universität und Bahnhof über das Rathaus und die (2004 der Telekom geopferte) britische Botschaft  bis hin zu den Diplomatensiedlungen in Plittersdorf und Bad Godesberg. Der Protagonist wohnt am Hang des Petersberges, und die Verkehrsprobleme werden genau beobachtet. Wer den Roman unter diesem Aspekt liest, mag verfolgen, wie Le Carré die Stadtgeographie und auch einzelne Gebäude so verändert, dass sie den Notwendigkeiten der Romanhandlung angepasst werden. Und natürlich beschreibt er die Gebäude und Strukturen, wie er sie aus den frühen sechziger Jahren in Erinnerung hat. Sie entsprechen dem Bonn des Jahres 1970 nicht mehr; und schon garnicht dem unserer Tage. Eine solche Spurensuche macht Spaß!

Warum Bonn bei seinem einzigen Auftritt in der Weltliteratur so negativ daherkommt, muss offen bleiben. Das mag damit zu tun haben, dass Le Carré schlechte Erinnerungen an seine Bonner Zeit hatte. Und natürlich ist es auch dem düsteren Sujet geschuldet. Tröstend mag sein, dass er in seinen Büchern eigentlich alle Schauplätze von ihrer hässlichen Seite zeigt. Und vielleicht steckt  ja auch ein winziges Körnchen Wahrheit in seinem Bonn.

Spionage in Bonn

Spionage in Bonn

Bonner Adresse : Ubierstrasse 107

Mittwoch, 24. April 1974: morgens um halb sieben ist die Welt nicht mehr in Ordnung in der Ubierstraße 107 im Bonner Stadtteil Bad Godesberg.

Vor dem unscheinbaren zwei-stockigen Haus stehen trotz Halteverbots fünf Einsatzfahrzeuge der Polizei auf dem Bürgersteig. Offenbar soll der Verkehr auf dieser vielbefahrenen Durchgangsstraße nicht behindert werden. Zwei uniformierte Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag schauen drohend auf die wenigen Schaulustigen, die sich zu dieser frühen Stunde – mutmaßlich auf dem Weg zur Arbeit – auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt haben.

Vier Beamte der „Sicherungsgruppe Bonn“ klingeln an der Wohnung im ersten Stock rechts und präsentieren den völlig überraschten Bewohnern einen Durchsuchungsbefehl. Das Ehepaar Christel und Günther Guillaume, beide 47 Jahre alt, wird vorläufig festgenommen. Verkatert von einer durchzechten Nacht mit Schulkameraden in der „Zwitscherstube“ in der Rheinallee, versteht der schlaftrunkene 17-jährige Sohn Pierre überhaupt nicht, was passiert.

„Ich bin Hauptmann der Nationalen Volksarmee und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Ich bitte, meine Offiziersehre zu respektieren!“, soll der überraschte Guillaume den Fahndern, wohl eher aber in Richtung seines völlig ahnungslosen Sohns gesagt haben. Er wollte in dieser extremen Stresssituation gegenüber seinem Sohn offenbar zum Ausdruck bringen, dass seine Eltern keine Kriminellen, sondern „Kundschafter des Friedens“ für eine gerechte Sache seien.

So endete eine der erfolgreichsten Spionageoperationen der HVA (Hauptverwaltung Aufklärung) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im kalten Krieg und die Karriere des DDR-Agentenpaars Christel und Günther Guillaume. Die Enttarnung des Kanzleramtsmitarbeiters Günther Guillaume als DDR-Spion ging als der bis dato größte Politskandal der Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte ein.

Zwei Wochen später, am 07. Mai 1974, tritt Willy Brandt zurück. Er übernimmt die politische Verantwortung dafür, dass sich ein DDR-Agent in das Machtzentrum der Bundesrepublik einnisten konnte. Es gilt als wahrscheinlich, dass die Guillaume-Affäre nicht der alleinige Grund für den Rücktritt war, zumal die von Guillaume in die DDR übermittelten Informationen offenbar nicht allzu sicherheitsrelevant waren.

Es gab da allerdings ein Dossier des Chefs des Bundeskriminalamtes, Horst Herold. In diesem Dokument waren die im Zuge der Ermittlungen gegen Guillaume protokollierten Aussagen der Sicherheitsbeamten von Brandt zu seinem Privatleben zusammengestellt. Dies beinhaltete auch Aussagen zu Brandts Alkoholkonsum und sexuellen Affären. Guillaume soll sogar derjenige gewesen sein, der Brandt „Frauen zugeführt“ habe.

Getarnt als konservativer Genosse aus dem ansonsten stramm linken SPD-Bezirk Hessen-Süd, hat sich der 1956 aus der DDR „geflohene“ Günter Guillaume bei den Sozialdemokraten nach oben gedient: Geschäftsführer der SPD im Frankfurter Stadtrat, Wahlkampfhelfer von Verkehrsminister Georg Leber.

Guillaume übersteht seltsamerweise alle Sicherheitsüberprüfungen, obwohl es schon 1957 Funksprüche der HVA an die Guillaumes vom BND entschlüsselt worden waren. Er wird 1970 auf Empfehlung Lebers Mitarbeiter im Kanzleramt, ab 1972 zu einem der drei persönlichen Referenten von Bundeskanzler Willy Brandt mit Zugang zu fast allen geheimen Informationen. Guillaume begleitet Brandt praktisch überall hin, geht sonntags mit ihm spazieren, fährt sogar 1973 mit der Kanzlerfamilie nach Norwegen in Urlaub.

Vor diesem Norwegenurlaub verdichten sich Hinweise, bei Guillaume könne es sich um einen „Perspektivagenten“ der DDR handeln, vor langer Zeit beauftragt, sich in der BRD eine verantwortungsvolle und informationsträchtige Stelle zu erobern. Der Kanzler wird von dem Verdacht informiert. Dingfest gemacht wird Günter Guillaume aber erst lange zehn Monate später. 1975 wird Günter Guillaume zu dreizehneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, seine Frau zu acht Jahren.         1981 wird Guillaume in die DDR abgeschoben. Der Mann, der Willy Brandts Rücktritt auslöste, stirbt 1995 in Berlin.

Zwei Dinge bleiben nachzutragen:

  • Zeitzeugen und Historiker sind sich einig, dass der eigentliche Skandal darin lag, dass BKA-Chef Herold und BND-Chef Nollau und deren Chef Innenminister Genscher den deutschen Bundeskanzler als „Lockvogel“ missbraucht haben
  • „Ich bin Hauptmann der Nationalen Volksarmee und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Ich bitte, meine Offiziersehre zu respektieren!“ Dieser Satz war der wesentlichste und gerichtsverwertbarste Aspekt, der gegen ihn sprach, da bis zu diesem Geständnis die Beweislage unglaublich dünn war. Ohne diese wahrscheinlich für seinen Sohn Pierre gedachte Rechtfertigung wären Günther und Christel Guillaume höchstwahrscheinlich mangels Beweisen freigesprochen worden.