Bonner Adresse : Ubierstrasse 107
Mittwoch, 24. April 1974: morgens um halb sieben ist die Welt nicht mehr in Ordnung in der Ubierstraße 107 im Bonner Stadtteil Bad Godesberg.
Vor dem unscheinbaren zwei-stockigen Haus stehen trotz Halteverbots fünf Einsatzfahrzeuge der Polizei auf dem Bürgersteig. Offenbar soll der Verkehr auf dieser vielbefahrenen Durchgangsstraße nicht behindert werden. Zwei uniformierte Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag schauen drohend auf die wenigen Schaulustigen, die sich zu dieser frühen Stunde – mutmaßlich auf dem Weg zur Arbeit – auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt haben.
Vier Beamte der „Sicherungsgruppe Bonn“ klingeln an der Wohnung im ersten Stock rechts und präsentieren den völlig überraschten Bewohnern einen Durchsuchungsbefehl. Das Ehepaar Christel und Günther Guillaume, beide 47 Jahre alt, wird vorläufig festgenommen. Verkatert von einer durchzechten Nacht mit Schulkameraden in der „Zwitscherstube“ in der Rheinallee, versteht der schlaftrunkene 17-jährige Sohn Pierre überhaupt nicht, was passiert.
„Ich bin Hauptmann der Nationalen Volksarmee und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Ich bitte, meine Offiziersehre zu respektieren!“, soll der überraschte Guillaume den Fahndern, wohl eher aber in Richtung seines völlig ahnungslosen Sohns gesagt haben. Er wollte in dieser extremen Stresssituation gegenüber seinem Sohn offenbar zum Ausdruck bringen, dass seine Eltern keine Kriminellen, sondern „Kundschafter des Friedens“ für eine gerechte Sache seien.
So endete eine der erfolgreichsten Spionageoperationen der HVA (Hauptverwaltung Aufklärung) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im kalten Krieg und die Karriere des DDR-Agentenpaars Christel und Günther Guillaume. Die Enttarnung des Kanzleramtsmitarbeiters Günther Guillaume als DDR-Spion ging als der bis dato größte Politskandal der Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte ein.
Zwei Wochen später, am 07. Mai 1974, tritt Willy Brandt zurück. Er übernimmt die politische Verantwortung dafür, dass sich ein DDR-Agent in das Machtzentrum der Bundesrepublik einnisten konnte. Es gilt als wahrscheinlich, dass die Guillaume-Affäre nicht der alleinige Grund für den Rücktritt war, zumal die von Guillaume in die DDR übermittelten Informationen offenbar nicht allzu sicherheitsrelevant waren.
Es gab da allerdings ein Dossier des Chefs des Bundeskriminalamtes, Horst Herold. In diesem Dokument waren die im Zuge der Ermittlungen gegen Guillaume protokollierten Aussagen der Sicherheitsbeamten von Brandt zu seinem Privatleben zusammengestellt. Dies beinhaltete auch Aussagen zu Brandts Alkoholkonsum und sexuellen Affären. Guillaume soll sogar derjenige gewesen sein, der Brandt „Frauen zugeführt“ habe.
Getarnt als konservativer Genosse aus dem ansonsten stramm linken SPD-Bezirk Hessen-Süd, hat sich der 1956 aus der DDR „geflohene“ Günter Guillaume bei den Sozialdemokraten nach oben gedient: Geschäftsführer der SPD im Frankfurter Stadtrat, Wahlkampfhelfer von Verkehrsminister Georg Leber.
Guillaume übersteht seltsamerweise alle Sicherheitsüberprüfungen, obwohl es schon 1957 Funksprüche der HVA an die Guillaumes vom BND entschlüsselt worden waren. Er wird 1970 auf Empfehlung Lebers Mitarbeiter im Kanzleramt, ab 1972 zu einem der drei persönlichen Referenten von Bundeskanzler Willy Brandt mit Zugang zu fast allen geheimen Informationen. Guillaume begleitet Brandt praktisch überall hin, geht sonntags mit ihm spazieren, fährt sogar 1973 mit der Kanzlerfamilie nach Norwegen in Urlaub.
Vor diesem Norwegenurlaub verdichten sich Hinweise, bei Guillaume könne es sich um einen „Perspektivagenten“ der DDR handeln, vor langer Zeit beauftragt, sich in der BRD eine verantwortungsvolle und informationsträchtige Stelle zu erobern. Der Kanzler wird von dem Verdacht informiert. Dingfest gemacht wird Günter Guillaume aber erst lange zehn Monate später. 1975 wird Günter Guillaume zu dreizehneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, seine Frau zu acht Jahren. 1981 wird Guillaume in die DDR abgeschoben. Der Mann, der Willy Brandts Rücktritt auslöste, stirbt 1995 in Berlin.
Zwei Dinge bleiben nachzutragen:
- Zeitzeugen und Historiker sind sich einig, dass der eigentliche Skandal darin lag, dass BKA-Chef Herold und BND-Chef Nollau und deren Chef Innenminister Genscher den deutschen Bundeskanzler als „Lockvogel“ missbraucht haben
- „Ich bin Hauptmann der Nationalen Volksarmee und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Ich bitte, meine Offiziersehre zu respektieren!“ Dieser Satz war der wesentlichste und gerichtsverwertbarste Aspekt, der gegen ihn sprach, da bis zu diesem Geständnis die Beweislage unglaublich dünn war. Ohne diese wahrscheinlich für seinen Sohn Pierre gedachte Rechtfertigung wären Günther und Christel Guillaume höchstwahrscheinlich mangels Beweisen freigesprochen worden.